Vor Jahr und Tag

20. August 2010 am Hauptbahnhof Stuttgart

Kommende Woche jährt sich der Abriss des Nordflügels am Stuttgarter Hauptbahnhof. Damals, in jenem Sommer, standen tausende von Stuttgartern einfach nur da, schauten, heulten, ballten die Hände in den Taschen zu Fäusten, trillerten, diskutierten, tösteten – und waren fassungslos über die Brutalität und die bürgerverachtende Hochnäsigkeit, mit der ein Konzern unter Mitwirkung der herrschenden Parteien und den interessierten Lobbygruppen seine Interessen durchzusetzten versuchte.

Und heute ? Von Rambo Mappus spricht niemand mehr, er verdient seine Brötchen als hochdotierer Pillenverkäufer bei Merck. Die schwarze Mamba Tanja Gönner ist im Nirwana ihrer Floskeln verschollen. Grün-Rot regiert das Land, Kretsch ist der erste grüne Ministerpräsident der BRD und immer noch oder jetzt erst recht Kult.

Wir haben einen eigenen unabhängigen Fernsehsender namens Flügel.tv, zwei neue unabhängige Zeitungen, einundzwanzig und Kontext, wir haben mit den Parkschützern eine gut vernetzte Bürgerinitiative im Netz und auf der Straße. Neulich gab es im Schloßgarten die erste Trauung zweier engagierter Erdbahnhofsgegner.

Wutbürger (besser:Mutbürger) ist ein Synonym dafür geworden, dass die Menschen sich endlich nicht mehr alles von oben herab diktieren lassen wollen, Stuttgart 21 ist der Inbegriff für eine verfehlte, investorenfreundliche Projektpolitik nach Gutsherrenart geworden.

Wir haben in dieser Stadt aber auch Freundschaften, die im Streit um den Bahnhof zerbrochen sind, wir haben zwei Lager, die sich spinnefeind und teilweise agressiv gegenüberstehen, unversöhnlich trotz Schlichtung. Wir haben Bürger, die erschöpft sind vom langen Widerstand, und Bürger, die endlich eine Entscheidung haben wollen, so oder so.

Geschichte wiederholt sich. Diese Woche hat die Bahn angekündigt, der Südflügel werde noch im September fallen. Nichts aus der Geschichte lernen – auch das wiederholt sich. Der Nordflügel ist seit vergangenem Herbst platt gemacht, bis auf ein überdimensioniertes Werbeplakat für den Bahnhof der Zukunft ist gar nichts passiert an dieser Stelle. Der Abriss des Südflügels ist bautechnisch zu diesem Zeitpunkt völlig unnötig. Bahn und Bund sind genervt vom permanenten Widerstand, wollen wieder ein Zeichen setzen, wollen Grün-Rot auf Steuerzahlers Kosten weiter unter Druck setzen. Und niemand ist in Sicht, der diesen Wahnsinn stoppen wird.

Es wird wieder Herbst in Stuttgart, in der Spätzlesmetropole, die sich in 12 Monaten ziemlich verändert hat – und die ihren Frieden immer noch nicht finden kann.

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