Morgen ist mal wieder ein besonderer Tag in Stuttgart. Vor genau einem Jahr hat die Mahnwache am Nordflügel des Hauptbahnhofs ihr Zelt aufgeschlagen. Seitdem – ohne jede Unterbrechung – ist es die wahrscheinlich längste Rund-um-die-Uhr-Protestwache in der deutschen Geschichte. Zeit zum Feiern – Zeit zum Grübeln.
An Montagen geht man natürlich bei der Mahnwache vorbei, vor der Demo, versorgt sich mit neuesten Flyern und gelegentlich mit den witzigen und kreativen Buttons gegen Stuttgart 21, bewundert das Pflanzenwachstum im angelegten Mahnwachengärtchen, dort, wo früher einer der Bäume stand, die den übereilten Vorarbeiten für ein Technikgebäude weichen mußte. Zeit für ein kurzes Schwätzchen ist meistens, Zeit auch, was in die Spendenbüchsen zu stecken. Die Mahnwache finanziert sich ausschließlich aus Spenden – und lebt vom ehrenamtlichen Engagement der Erdbahnhof-Gegner.
Im vergangenen Sommer ist dies der Platz, der für viele Stuttgarter den Alltag verändert. Jeden Tag stehen tausende vor dem Nordflügel, versuchen, den barbarischen Abbruch durch bloße Anwesenheit und Trillerpfeifen zu verhindern – viele haben Tränen in den Augen und eine unglaubliche Wut im Bauch, als der Bagger sich gnadenlos in das denkmalgeschützte Gebäude frisst. Entlang der Baustelle entsteht der Bauzaun, der zur touristischen Sehenswürdigkeit wird und bald im Haus der Geschichte zu sehen ist.
Mahnwache: bei Wind und Wetter, im Schneetreiben und bei brütender Hitze, bei Tag und in der Nacht, rund um die Uhr. Etwa 600 Menschen sind es, die sich diesen Knochenjob teilen. Ihnen gilt meine aufrichtige Bewunderung. Ich selbst habe im vergangenen Jahr gemerkt, dass mir der Widerstand an die Substanz geht. Damals, als der Nordflügel abgebrochen wird, ich jeden Tag vor Ort bin, nachts bei jedem Martinshorn fast aus dem Bett falle, immer besorgt, ob sich meine Jungs zurückhalten können und sich nicht von der Polizei und ihren Provokateuren aufheizen lassen.
Die Leute von der Mahnwache haben ihren Lebensrhythmus dem Widerstand angepasst. Ich kenne Leute, die haben, nachdem die Kinder flügge geworden sind und die Ehe gescheitert ist, im Widerstand eine neue Lebensaufgabe gefunden. Ich kenne auch Leute, die kriegen die Baggerbilder vom vergangenen Jahr und die Prügelbilder vom Herbst im Schloßgarten nicht mehr aus ihrem Kopf. Deshalb sind sie hier.
Morgen wollen wir sie hochleben lassen. Mit der unermüdlichen Compagnia Sackbahnhof, Schwoißfuaß, Joo Kraus und vielen anderen. Macht weiter – und bleibt oben ! !
Der Mensch neigt zur Glorifizierung seiner eigenen heldenhaften Vergangenheit – soisses, halt.
Und ihren Enkeln werden sie noch davon erzählen. Mindestens 3 mal so viele, wie wirklich dort waren…